Die Vorherrschaft des Autos beenden
 
 
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Editorial  
               
 
29.10.2013

Verdrängungswettbewerb für die „Bedürfnisse der bürgerlichen Mitte“
Ein ökonomischer Begriff entdeckt seine psychologischen Qualitäten

von Frank Mankyboddle

Stuttgart (dpa) - Die Grünen sollten nach Auffassung von Porsche-Vorstandschef Matthias Müller mehr auf Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann hören. Dieser habe erkannt, «welche gewaltigen Anstrengungen die baden-württembergische Auto- und Zulieferindustrie unternimmt, um beim Klimaschutz voranzukommen», sagte er den «Stuttgarter Nachrichten» (Samstag). Es sei aber schade, «dass er bei seiner Partei offenbar nicht breiter durchdringt». Kretschmann versuche, «die Bedürfnisse einer bürgerlichen Mitte zum Ausdruck zu bringen, kommt aber nicht immer gegen die Widerstände in seiner Partei an». Damit vergäben die Grünen eine große Chance. «Die Angst, dass das Land im grünen Chaos versinkt, muss man hier jedenfalls nicht mehr haben», sagte Müller.
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"Die 'invisible hand' hatte, schon im 17. Jahrhundert, eine Fortschrittsgarantie symbolisiert. Nachdem sie zunehmend unter Arthrose zu leiden begann, übernahm das Desiderat des wirtschaftlichen Wachstums selbst diese Funktion. […] Den Politikern und der öffentlichen Meinung wird folglich suggeriert, Wirtschaftswachstum sei notwendig, sei eine Bedingung gesellschaftlicher Stabilität."  –  Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, 1988.

Die Ansichten eines Raserei-Beauftragten der deutschen Autoindustrie, in obiger dpa-Meldung vom Oktober 2013, werden niemanden überraschen. Der herablassende Ton der Wirtschaftskapitäne, Ökonomen und anderer Bankrott-Experten gegenüber der Grünen Bewegung ist mindestens so alt wie die Partei. Allerdings vermengt sich die ökonomische Bedeutung des Begriffs „Verdrängungswettbewerb“ immer mehr, und durchaus in einem Zusammenhang stehend, mit seiner psychologischen Bedeutung.

Abgesehen von der Realität, die uns einen immer weiter steigenden CO2–Ausstoß beim Verkehr beschert und somit all den „gewaltigen Anstrengungen“ der baden-württembergischen Auto- und Zulieferindustrie Hohn spricht, erhält hier der Regierungschef, aus den Reihen der ehemals kritischen Ökopartei, den Kuss des Paten vor der Phantom-Kulisse einer renitenten Partei-Basis. Die Grünen, vom Wachstums-Klerus und der dazugehörigen Glaubensgemeinschaft der Konsumgläubigen längst sturmreif diffamiert, taugen allenfalls noch für eine Halloween Party. Die Gefahr, die von Ihnen für die deutsche Autoindustrie ausgeht, dürfte die eines geschnitzten Kürbisses nicht übersteigen. Egal wo sich die Grünen in Deutschland in irgendeinem Amt von mittlerweile zweifelhaften Würden befinden, tragen sie den ganzen katastrophalen Wachstums-Fetisch brav mit, um ja nicht die „bürgerliche Mitte“ zu verschrecken. Ob bei Stadtrat Kirchturm oder Ministerpräsident Kretschmann: die Arbeit wird ordentlich im Sinne der Auftraggeber abgeliefert.

Die, wenn vielleicht auch in den letzten Jahren zahlenmäßig geschrumpfte, „bürgerliche Mitte“, die seit je her an der Fiktion ihrer Gutmütig- und Gutwilligkeit strickt, ist ein aufgeblähtes Monstrum geworden, dass seine eigenen, und unsere (sic!), Lebensgrundlagen zerstört, wobei CO2 ein abstraktes, aber jedenfalls buchstäblich nicht zu fassendes Phänomen bleibt, von dem die Mittelklasse offenbar schon zu viel eingeatmet hat, um es noch als Gefahr erkennen zu können. Kretschmann ist wiederum der ultimative Beweis dafür, dass sich die Grünen den Bauch dieses Monstrums als Habitat gewählt haben und sich dort prächtig vermehren. Dass solche Herkunft keine Systemkritiker hervorbringt wird jeder verstehen. „Postwachstumsökonomie“ und ein Leben ohne Auto und den Anspruch auf (Billig-)Flugreisen wird bei den Grünen nur noch in Märchenform behandelt. Vor allem wo man sich doch mittlerweile so brav und demonstrativ an die eigene Pappnase fasst und den bösen Wolf in sich nur zu gut kennt.

Der alt-bügerlichen Mitte, und der ihr nach(g)eifernden Rest-Masse, ist solches Zartgefühl dagegen weiterhin völlig fremd. Mensch drückt ohne jedes Unrechtbewusstsein gerne weiter voll auf die Wachstums- und Konsum-Tube, so weit die Räder tragen. Jeder verlorene Parkplatz, jede Benzinpreiserhöhung und jeder nicht neu gebaute Autobahnkilometer bringt Schaum vor das Maul der „Fortschritts“-Bestie, egal ob Stadtrat Kirchturm oder der Vorsitzende Klempner diesen Ausschuss ins Verdrängungs-Nichts führt. Politische und kommunikative Kreativität, die es versteht unliebsame aber notwendige Maßnahmen durchzusetzen darf man heute von keinem Grünen mehr erwarten. Als auf eine zwingende Notwendigkeit, kann sich die Gesellschaft nur noch auf das „Wirtschaftswachstum“ einigen. Dabei wird es voraussichtlich bleiben.

Wem all diese Polemik nicht schmeckt, möge sich einfach an die Fakten halten. Beim Verkehr bleibt die „Energiewende“ eine völlige Illusion. Der CO2 –Ausstoß wächst unablässig und obwohl schon die alte Verkehrsinfrastruktur nicht mehr instand gehalten werden kann, werden immer neue Autobahnen gebaut, die die Menge der instandzuhaltenden Straßenkilometer und Brücken wiederum noch weiter erhöht. All das ist natürlich nur mit immer noch mehr (gewolltem) Wachstum möglich. SUFFIZIENZ ist für die Grünen kein Thema mehr und für die EFFIZIENZ-verliebte deutsche Gesellschaft noch nie gewesen. Denn: Effizienz kann man verkaufen, Suffizienz nicht.

Bei der so genannten „Energiewende“ wiederum erleben wir, in Bezug auf einen großen Teil der „erneuerbaren Energien“, ebenfalls einen Wettbewerb bei der Verdrängung von Realität. Agrosprit, Gas aus Maismonokulturen und Palmöl, alle mit einer schlechteren Ökobilanz als fossile Energien, werden dafür eingesetzt das schlechte Gewissen der „bürgerlichen Mitte“ grün zu waschen. Was vor 15-20 Jahren theoretisch offenbar zu kurz gedacht war, erweist sich heute als Alptraum der Naturzerstörung und CO2 Verschmutzung. Aber kein Grund für die Politik wenigstens diesen Alptraum zu beenden.

Denn die „bürgerliche Mitte“ ist ja schon dankbar, wenn der Raubbau an der Natur nicht vor der eigenen Haustür stattfindet, sondern im Amazonas oder auf Borneo. Da kann man dann bei ARTE getrost mit dem Finger auf seinen Fernseher zeigen und die rückständigen Schwellenländer dafür verantwortlich machen. Willkommen beim Verdrängungswettbewerb der bürgerlichen Mitte!

Quellen:
Saubere Energie – Das falsche Versprechen, ARTE/NDR 2013
www.youtube.com/watch?v=NJ6tu18ySlg
Bernhard Knierim, Essen im Tank, 2013 ISBN978-3-85371-354-9
Niko Paech: Die Wachstumsparty ist vorbei
www.youtube.com/watch?v=Xdwqu88cY3g
Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, 1988, ISBN 3518287524, Kapitel 3.IV
u.v.m.